Wissenswertes im Coachingalltag: Ein Problem – was ist das?

Im Coachingalltag treffen wir auf Menschen, die mit einem sogenannten Problem auf uns zukommen. Systemisch gesehen gibt es jedoch keine Probleme. Es gibt nur Ereignisse und Verhalten von Lebewesen. Manche dieser Ereignisse oder Verhaltensweisen werden als unerwünscht bewertet. Ein und dasselbe Verhalten oder auch dieselben Ereignisse können in anderen Kontexten oder von anderen Beobachtern als neutral betrachtet werden. Der aufmerksame Leser, die aufmerksame Leserin werden schon erschlossen haben, dass es da doch eine Verbindung zu den Wirklichkeitskonstrukten geben muss; denn je nachdem, wie wir unsere Wirklichkeit konstruieren, können in einigen dieser Wirklichkeiten diese Ereignisse oder Verhaltensweisen als problematisch eingestuft werden. Soweit die Theorie.

Starten wir doch mit einem Witz

Ein Mann kriecht auf allen Vieren in der Nacht unter einer Laterne herum. Ein anderer kommt vorbei und fragt: „Suchen sie was? Kann ich ihnen helfen?“ „Ja, ich suche nach meinem Schlüssel.“ Nach einer Weile, in der sie schon alles abgesucht haben, fragt der helfende Passant: „Sind sie sicher, dass sie ihren Schlüssel hier verloren haben?“ „Nein, den habe ich da vor meinem Haus verloren,“ antwortet der Suchende. „Wieso suchen sie dann hier?“ fragt der Passant. „Hier ist das Licht besser,“ so die Antwort des Suchenden.

Dieser unerwartete Ausgang bringt uns zum Lachen, weil es absurd ist, dort zu suchen, wo der Schlüssel gar nicht sein kann. Aber es stimmt, fügt man eine andere Randbedingung hinzu wie: Unter der Laterne ist mehr Licht, das man sicher zum Finden braucht, könnte der Schlüssel im Licht theoretisch leichter gefunden werden. Da der Ort des Verlustes des Schlüssels und der beleuchtete Ort nicht zusammengebracht werden können, ergibt sich eine Diskrepanz zwischen Problemdefinition und Lösung.

Verschiedene Kontexte müssen betrachtet werden

Unter der Perspektive finden ist die Suche besser in der Umgebung der Haustür, auch wenn es dort vielleicht nur durch Tasten am Boden gelingen kann. Wir müssen uns also entscheiden zwischen dem Kontext Beleuchtung bzw. „Suchen“ und dem Kontext „Finden“. Der als Problem definierte Mangel an Licht vor der Haustür wird also behoben durch die Suche an einem Ort mit Licht. Auch wenn etwas an der Problemdefinition richtig ist, so wird es dennoch unter der Laterne nie zum Finden kommen, es sei denn, wir würden in einer Welt leben, in der verlorene Gegenstände sich von allein in Richtung Licht begeben würden. Mir ist keine Untersuchung bekannt, in der diese Möglichkeit ausgeschlossen wird. Natürlich hat noch niemand diese mögliche Welt untersucht, der wir in unserer Fantasie sehr wohl folgen könnten.

Eine andere Situation macht es vielleicht noch deutlicher, was ich sagen will: Ich wurde eines Nachts von einem Mann auf der Straße angesprochen, ob ich eine Quarzuhr hätte. Ich hatte eine Uhr, aber keine Quarzuhr. Ich unterstellte, dass er die Zeit wissen wollte und sagte: „Die Uhrzeit kann ich ihnen trotzdem sagen.“ Er antwortete: „Nein, nein, das nützt mir nichts.“ Ich schüttelte meinen Kopf und ging ob dieser absurden Antwort meiner Wege. Im Kontext des Mannes war es offenbar ein Problem, dass ich über keine Quarzuhr verfügte. Kann sein, dass er die ganz genaue Zeit brauchte, aus welchem Grund auch immer oder dass er den als höher unterstellten Wert einer Quarzuhr im Vergleich zu einem normalen Uhrwerk recherchieren musste, weil er mir die Quarzuhr stehlen wollte, an dem normalen Uhrwerk aber kein Interesse hatte und auch keinen Bedarf.

Probleme sind kontextabhängig

Überall da, wo wir es mit Vorurteilen zu tun haben beispielsweise, stoßen wir auf Problemdefinitionen, die zumindest nicht von allen geteilt werden. Hieran und an den obigen Beispielen wird deutlich, dass es nicht trivial ist, was wir als Problem bewerten und was nicht. In manchen Kontexten kann ein Verhalten in Ordnung sein, das in anderen Kontexten als problematisch bewertet wird. So ist es geradezu erwünscht, sich an einem Buffet selbst zu bedienen. Wenn ich hingegen in einer Kneipe hinter den Tresen gehe und mir selbst ein Bier zapfe, wird das vermutlich als Problem definiert werden, obwohl ich mich ja auch nur selbst bediene. Es mag sogar Kontexte geben, in denen es wieder erwünscht ist, dass wir uns das Bier selbst zapfen.

Probleme sind abhängig von den Wirklichkeitskonstrukten

Für uns heißt das, eine angebotene Problemdefinition nicht als selbstverständlich zu nehmen. Sie sagt etwas aus über die Wirklichkeitskonstrukte unseres Gegenübers und was innerhalb dieser Konstrukte als abweichend oder problematisch bewertet wird. Was also zum Problem erklärt wird, hängt vom Kontext und den Wirklichkeitskonstrukten unseres Gegenübers ab. Dasselbe gilt für sog. Symptome, die Teil einer Problemdefinition sein können, mit dem besonderen Akzent, das als Zeichen einer Krankheit zu nehmen.

Verallgemeinerungen verweisen auch auf Wirklichkeitskonstrukte

In meiner Kindheit galt es, alle seine Wertsachen, überhaupt sein Eigentum in Sicherheit zu bringen, wenn die „Zigeuner“ [*] in den Ort kamen. Ihnen wurde unterstellt, dass sie alles klauen. Später galt es, seine Autos vor Polen in Sicherheit zu bringen, weil „die“ dir das Auto unterm Hintern wegklauen würden. Heute gilt für viele, dass fremdländisch aussehende Menschen potenzielle Terroristen oder Vergewaltiger sind. Die darin enthaltene Verallgemeinerung stimmt sicher nicht mit der Realität überein, aber sogar bestimmte Häufungen zu bestimmten Zeiten für solche Delikte legen eine Verallgemeinerung nahe bzw. macht sie verständlich, auch wenn sie systemisch gesehen nur ein Wirklichkeitskonstrukt darstellt.

Probleme unterliegen dem gesellschaftlichen Wandel

An diesen Vorgängen können wir sehen, dass das, was wir als Problem definieren, einem gesellschaftlichen Wandel unterliegt. Dennoch ist es so, dass bestimmte Problemdefinitionen, wie die mit den „Zigeunern“, sich über die Zeit hinaushalten können, also auch dann noch für gültig erachtet werden, wenn beispielsweise die „Zigeuner“ oder Polen längst nicht mehr des ständigen Diebstahls bezichtigt werden können.

Wie solche Vorgänge entstehen und aufrechterhalten werden, hat Max Frisch in seinem Theaterstück „Andorra“ deutlich dargestellt. Es ist nach wie vor aktuell in der Darstellung der inneren und äußeren Abläufe der Bürger gegenüber einem andorranischen Juden.


[*] In den neueren Kontexten ist „Zigeuner“ ein – wie der Engländer sagt – „four-letter-word“, also ein unanständiges Wort. Natürlich wurde das diskriminierend benutzt und das insbesondere von den Faschisten. Der heutige Kontext hat sich geändert und wir benutzen für diese Volksgruppe die Bezeichnung, die sie sich selber gegeben haben. Das ist sicher richtig so. Aber das ist im Kontext dieses Artikels unerheblich. Vielmehr verdeutlicht die hier benutzte Bezeichnung den diskriminierenden Charakter und damit einhergehende Vorurteilsbildung.

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