Gerade kommen wir in eine andere Kurve der Corona-Krise. Klar, wir sind alle gestresst und belastet von den existierenden Einschränkungen. Sogar die Kanzlerin spricht über die psychischen Belastungen durch die Corona-Beschränkungen. Die Politik setzt darauf, endlich wieder mehr Aktivitäten zu ermöglichen, auch wenn die Argumentation dazu nicht immer nachvollziehbar ist.
Keine Erleichterung in der Praxis
In unserer Praxis allerdings atmen die Menschen nicht etwa erleichtert auf. Zum einen sind die Möglichkeit noch zu sehr eingeschränkt, denn „jetzt muss ich mich auch noch zum Einkaufen anmelden“. Einige Patienten, die körpernahe Dienstleistungen verrichten, sind über die Veränderungen gar nicht froh, andere sehr wohl. Die Spannbreite geht von: „Ich lasse mich doch nicht testen, um zu arbeiten“ bis zu „Ich finde es gefährlich, wenn ich den ganzen Tag so nah am Kunden dran bin“. Die Angst, sich zu infizieren, nimmt wieder zu und wird natürlich unterstützt durch die Zunahme der Infektionen infolge der neuen Virus-Varianten.
Keine Gewissheit
Für uns sieht es im Moment so aus, dass leichte Öffnungen wie jetzt, keine wirkliche Freude auslösen. Dafür war der Lockdown zu lang. Es ist im Grunde wie nach langem Getrenntsein von lieben Menschen: Wenn wir uns wiedersehen, kommt nicht unbedingt spontane Freude auf, sondern das Gefühl der Verlassenheit tritt erst einmal in den Vordergrund, bevor so allmählich andere Gefühle deutlicher werden können wie z.B. die Freude. Es kann aber auch die Wut über den Verlust in den Vordergrund treten, was ja auch bei einigen zu passieren scheint. Hinzu kommt, dass wir uns nicht sicher sein können, dass es so bleibt: Wenn die Inzidenzen wieder in die Höhe gehen, kann es ganz schnell wieder zu den bekannten Einschränkungen kommen. Also: freu dich nicht zu früh!
(Nach Fertigstellung dieses Artikels kam es auch schon wieder zum Anstieg der Inzidenzen, so dass mancherorts die Öffnungen schon wieder obsolet sind.)
Angst oder Wut?
Diese und andere Bewegungen erleben wir gerade in unserer Praxis. Nach durchgehender Entspannung sieht das nicht aus. Wir alle wurden bei der Auseinandersetzung um den Umgang mit der Pandemie nur eingeschränkt mitgenommen. Viele haben sich aus purer Angst angepasst, andere sich aus lauter Wut dagegen gestellt. Wenn also die Zustimmungszahlen zu den politischen Maßnahmen hoch sind, könnte das also heißen, dass die Menschen sich in erster Linie aus Angst angepasst haben, aber nicht im Innersten überzeugt von der Richtigkeit der Maßnahmen waren. Einzig in Neuseeland scheinen die Menschen so mitgenommen worden zu sein, dass sie die Schritte der Regierung in voller Überzeugung mitgegangen sind.
Erinnern an die Freude
Auch deswegen will keine rechte Freude aufkommen. Das ist es aber, was wir brauchen. Und Freude ist nichts, was wir allein in unserer stillen Kammer entwickeln, sondern in erster Linie im Zusammensein mit anderen. Die stille Kammer scheint eher etwas für den Jammer zu sein und weniger für die Freude, wie uns schon Matthias Claudius in seinem Text von „Der Mond ist aufgegangen“ wissen ließ. Unter anderem deshalb haben wir die ganze Zeit unsere Praxis geöffnet gehalten, die Menschen unterstützt, ihre Belastungen zu teilen, sie aber auch immer wieder an Freude erinnert, die sie schon hatten oder die noch bevorsteht. Denn letztlich kann uns niemand die Freude stehlen, die Freunde übrigens auch nicht. Die brauchen wir nämlich dringend in diesen Zeiten, damit der Jammer mit Trost beantwortet werden kann und die Freude über das Gemeinsame geteilt werden kann.